Barockes Theater - Trendeindrücke zur Mailänder Möbelmesse 2006

Diskutiere Barockes Theater - Trendeindrücke zur Mailänder Möbelmesse 2006 im Forum Sanierung allgemein im Bereich - In diesem Jahr erschien Udo Tünte, Leiter Entwicklung & Innovation bei Parador, Mailand wie ein barocker Maskenball. Das Motto der grössten...
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In diesem Jahr erschien Udo Tünte, Leiter Entwicklung & Innovation bei Parador,
Mailand wie ein barocker Maskenball. Das Motto der grössten Möbelparty der Welt
hieß offensichtlich: Schwarz - Weiß - Barock. Damit war so gut wie alles
erlaubt, was übrigens von grossen wie kleinen Designern schamlos ausgenutzt
wurde: Neobarocke Opulenz, Ornamentik und Kitsch.



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Eindrucksvoll kreativ und mit Mut zum Experiment sprudelte es
dagegen vor allem vor den Toren der neuen Messehallen, rund um die Via Tortona.
Das "Szene Viertel" Mailands vermochte zu begeistern und zu inspirieren.



Wie Spassbremsen wirkten dagegen die Vertreter der Moderne. Die
Minimalisten und die soliden Designhandwerker folgten standhaft und scheinbar
unter stillem Protest wieder ihrem reduzierten Kurs, nachdem ihnen ihre neue
Lust auf Ornamente, die sie noch im vergangenen Jahr zur Schau gestellt hatten,
vergangen war (siehe Beitrag "Mailand
2005 - Die neue Lust auf Ornamente
" vom 9.5.2005). Viele von ihnen erinnerten,
wohl sich selbst ermahnend, an die Heldentaten ihrer Väter und Urväter, indem
sie ihre Design-Ikonen und zugleich Bestseller in den Mittelpunkt rückten.
Einige hatten sich, wohl um nicht untrendy dazustehen, teils verlegen, teils
keck schließlich doch noch eine barocke Pappnase aufgesetzt.



Neobarock



Schaubühne für das neobarocke Lebensgefühl war der "Salone del
Mobile", in der neuen Messe Mailand. Hier ist ein moderner, neuer "Messeraum"
mit beeindruckenden Ausmaßen entstanden, allerdings auch mit mühsamen "zu Fuß"-Distanzen.
Ein Ort, an dem man zunächst ein wenig die Nestwärme und das Familiäre der alten
Messe vermisst. Die neue "Flughafenarchitektur" ist architektonisch gewiss
überzeugend. Vertraut war einzig das "alte" Gebrechen, das sie scheinbar geerbt
hat: Die chaotische An- und Abfahrtlogistik und die verwirrende Wegeleitung auf
dem Messegelände sorgten bei Rekordbesucherzahlen für dichtes Gedränge.



Ludwig der XIV ist offensichtlich den kleinen und großen
Designern abermals im Traum erschienen mit der Botschaft: Schwelgt und feiert
mal wieder richtig ! Bei seiner ersten Offenbarung 2004 hatte er Phillippe
Starck zu 'Louis Ghost' inspiriert. Wer dachte, dass mit diesem Stuhl der Barock
im Design abgefeiert sei, wurde eines Besseren belehrt. Lediglich Marcel Wanders
gesteht Udo Tünte noch eine weitere barocke Urheberschaft zu.




<img border="1" src="http://www.baulinks.com/webplugin/2006/i/1207-parador2.jpg" align="right" hspace="3" vspace="3">Barock
ist ein portugiesisches Wort und bedeutet "unregelmäßig geschliffene Perle". Im
16. Jahrhundert erhält es in Frankreich die Bedeutung "sonderbar, lächerlich".
Es wird auf die zeitgenössische Kunst übertragen und soll sie als regelwidrig,
bizarr und schwülstig kennzeichnen gegenüber der Klarheit und Harmonie der
Renaissancekunst.



Die heutige Designwelt befindet sich in einer ähnlichen
Situation. Die Moderne, mit ihren Ursprüngen im Bauhaus übernimmt dabei die
Rolle der Renaissance. Sie steht für eine klare und schnörkellose Formensprache,
bei der Funktion und Form im Einklang stehen. Der Barock der Jetztzeit hingegen
ist mittlerweile ein Heer von Designrebellen, die sich einer Art emotionaler
Revolution verschrieben haben, die die Vorherrschaft des rationalen Designs
brechen soll. Dabei ist ihr scheinbar jedes Mittel recht, wenn es nur die
Sinnesfreude stimuliert.



Dramatische Hell–Dunkel-Kontraste in schwarz und weiß, oftmals
verbunden mit üppiger Ornamentik, bestimmten in diesem Jahr die Gestaltung von
Räumen und Möbeln. Viele Messestände wirkten wie barocke Bühnen, mit starkem
Drang zu Theatralik, Opulenz, Bewegung und überladener Selbstdarstellung.



Von mondänen "Schwarz in schwarz"-gehaltenen Räumen bis hin zu
himmlisch wirkenden "Weiß in weiß"-Gestaltungen reichte das Spektrum der
Messearchitekturen, als Zwischenlösung sah man schwarz-weiße Raummalerei. Gold,
Silber und kristalline Lichteffekte erzeugten den erwünschten grotesken
Beigeschmack. Wolkenartige, weiße Lichtskulpturen und Ballons, die an
Reispapierleuchten erinnern, schwebten lichtgebungsvoll in der Dunkelheit.



Einige nehmen den Barock beim Wort und zitieren ihn, andere
nehmen es nicht so genau: ein bisschen Barock, ein bisschen Klassizismus mit
einer Prise Jugendstil. Mit zu ihren Anführern gehört der Hersteller Moooi mit
Marcel Wanders, der seinen ganz in schwarz gehaltenen Stand in der Via Tortona
mit theatralischer Gestik inszeniert. Mit viel Ironie und der Gratwanderung zum
Kitsch werden hier neobarocke Gedanken überzeugend und unterhaltsam vorgetragen,
durchaus gekoppelt mit innovativen Materialgedanken, wie z.B. wuchtige
Antikschränke und Kronleuchter von Studio Job, gebaut aus laminiertem Papier und
durch ihre Leichtigkeit verblüffend. Horse lamp, Rabbit lamp und Pig table, alle
schwarz und lebensgroß, sind gelungene animalische Veralberungen der Designer
Frauenriege "Front".



Sawaya und Moroni zeigten Tische mit Beinen aus geschliffenem
Kristallglas mit neonfarbenen Glasplatten, mit anderen Worten 'Avantgarde
Kitsch'. Ycami präsentiert Schwarz-in-schwarz-Ornamentik mit opulenter
Exotikdekoration. Die Frage nach einem Identitätswandel drängt sich auf, wenn
man auf das bisherige modern orientierte Aluminiummöbel-Sortiment blickt.



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Ein typisch barockes Stilmittel ist die Überlagerung und
Überladung der Raum- und Möbelkonturen mit schwülstiger Ornamentik. Hier wuchern
historische Rocaillen, florale und retrografische Verzierungen: Zanotta umhüllt
sich mit einem Brautkleid aus floraler Spitze. Raumteiler, Vorhänge in üppig
geblümter Stanzoptik oder Bausätze für fragile Strukturen, die allesamt
Raumverwirrung stiften, werden von vielen Neo-Barocken Jecken getragen.



Mode, Fun, Kunst und Mut zum Experiment



Andere propagierten, bewusst oder unbewusst, ein barockes
Lebensgefühl und drückten dies mit zeitgemäßen Mitteln aus: Mode, Experiment,
Fun und Künstlerisches.



Eine kraftvolle Schwarz-weiß-Inszenierung bot Moroso. Patricia
Urquiola, Martino Berghinz und die Künstlerin Corinna Cadetto schufen ein
bewegendes Gesamtkunstwerk: Vertikalrollos mit expressiven schwarz-weiss
Grafiken rollten sich ständig auf und ab. Eine Raumillusion, bei dem die
Exponate schnell ins Hintertreffen geraten. Dennoch - auch inhaltlich setzte
Moroso neue Impulse: Die Symbiose von Mode und Möbel.



Der "Ripple Chair" ist ein interdisziplinäres Projekt zwischen
Ron Arad, A-Poc und dem Modedesigner Issey Miyake. Es wurde eine Kollektion aus
Stola, Jacke, langer und kurzer Hose entworfen, die sowohl dem Ripple Chair als
auch seinem Besitzer gut stehen. Auch "Antibodi", eine Liege von Patricia
Urquiola, trägt modisches Blattwerk. Moroso ist auf dem besten Weg sich zum
emotionalen Desginführer der Branche zu entwickeln.



Ebenso dramatisierte Vitra mit dem Standkonzept der Bouroullecs
Brüder. Diese falteten terracotta- und blaugraue textilbezogene Pappen zu
schuppigen Skulpturen, die wie Fragmente von Urzeitreptilien anmuteten. Davor
präsentierte Vitra seine Designklassiker und z.B. das kubisch asymmetrische
"Polder Sofa" von Hella Jongerius aus 2005 mit aufgenähten Knöpfen im Polster.



Der Stand von Quinze und Milan überraschte mit einer bizarren
Lichtskulptur und mit nicht zu überhörenden Bargroove Rythmen. Arne Quinzes
"Unisex Light" glich einem Geweih, das sich durch Wandspiegelungen verwirrend
vervielfacht. Sehr zahm dagegen wirkte die "By the pool collection", outdoor
Stahlrohrmöbel, die auf Sandboden präsentiert wurden. Ob Arne Quinze sich
tatsächlich zum "Designtiger" entwickelt, mit dem er sich offensichtlich
vergleicht, bleibt abzuwarten.



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Funmöbel waren bei Magis, Ferlea, Heller oder Campeggi zu sehen,
wie z.B ein Trampolin-Sitzobjekt oder ein Tamburine, das Tisch und
Musikinstrument zugleich ist. Meritalia zeigte sich mit Mut zum Experiment und
Edra künstlerisch mit "Brasilia"-Tischen aus trapezförmigen Glasflächen der
Campana Brüder.



Horm zeigte mit Steven Holl im Zeichen der neuen Kristallinität
ein prismenförmig, gefaltetes Sideboard in Nussbaumoberfläche mit filigran
gelasertem geometrischem Lochbild. Das Perforieren der Oberfläche ist derzeit
ein beliebtes Gestaltungsmittel. Was früher sowohl in der Konstruktion als auch
in der Fertigung mühsam war, ist heute mit digitalen Werkzeugen fast ein
Kinderspiel. Digitales Design und Produktion entwickeln sich zu Standardtools.
Sie eröffnen und erleichtern besonders den Organikern unter den Gestaltern, wie
z.B. Ross Lovegrove, Karim Rashid oder Odue Concept ihre Designsprache zu
formen, verführen allerdings auch dazu das ganze Geschraubte und Verschlungene
zu konstruieren.



Das Stiefkind der Messe war der Salone Satellite, die Plattform
für den Designnachwuchs. Am Rande der Messe in einer Zeltarchitektur platziert,
schlecht ausgeschildert, präsentierten sich experimentierfreudig und engagiert
die Jungdesigner. Gleich im Entree war Alien Syndrom, eine innovative
Licht–Sound Skulptur von Douglas Mont installiert, gefolgt von einer Vielzahl
von Ideen und beachtlichen Entwürfen der jungen Wilden.



Zona Tortona- Ort der Hyperkreativität



Vielleicht sollten die Jungdesigner im nächsten Jahr eher in die
Zona Tortona gehen, denn abseits der neuen Messe, rund um die Via Tortona im
Südwesten Mailands, brodelte es vor Kreativität. Was sich hier entwickelt hat
ist ein Jahrmarkt aus Design, Kunst und Aktion, auf dem sich gleichberechtigt
Profis, Amateure und Dilletanten darstellen und das nahezu rund um die Uhr.
Mittlerweile ist die Zona Tortona längst ein Muss für jeden
Mailandmessebesucher, für das man allein zwei Besuchstage einplanen sollte.



Einmalig ist das Flair heruntergekommener, ungeschönter
Industriearchitektur, kombiniert mit Design-Improvisationen und perfekten
Inszenierungen. Junge Labels präsentieren sich mit extremen Ideen und
Experimenten, dazwischen inspirierende Kunstausstellungen und Designflohmärkte
wie Pitti Living mit allerlei Kuriositäten. AEG wartete in Coffee & Cool mit
einer massiven Mammut-Holztafel auf und bot als Imbiss eine Erdnussorgie. Auf
den Straßen gab es spontane Präsentationen mit umgebauten Autos als mobile
Showrooms. Kurz gesagt ein Ort der Hyperkreativität. Für Udo Tünte das
eigentliche Highlight der Messe.



Die Moderne dreht sich im Kreis



Weit abgeschlagen dieser ganzen emotionalen Design-Aufregung
standen die Vertreter der Moderne, die etablierten Edelmarken des
internationalen Möbeldesigns: Cassina, B&B und Molteni, Poliform, Lignet Roset,
Capellini, und Driade. Nachdem einige im letzten Jahr eine florale Auszeit
genommen hatten, versuchte man sich in diesem Jahr wieder auf die alten Tugenden
zu besinnen.



An das Motto 'schwarz-weiß' hatten sich die meisten gehalten,
sowohl mit ihren Innenarchitekturen als auch den Möbeloberflächen. Cassina setzt
alles auf "Le Corbusier" und seine LC-Ikonen, als sei damit alles Neue
unerreichbar vorweggenommen. B&B versucht die Designklassiker von Morgen zu
entwickeln. Dafür stehen die neuen Entwürfe von Antonio Citterio, Naoto Fukasawa,
Patricia Urquiola und Uwe Fischer. Gutes Designhandwerk, nur nicht wirklich
zukunftsweisend.



Molteni setzte wie alle auf Hochglanzmöbel und schien die Farbe
grün zum Trend der Messe machen zu wollen, hatte damit nur leider das Messemotto
knapp verfehlt. Der Trend zu Hochglanz–Lackoberflächen aus den letzten Jahren
wiederholt sich: Reduzierte, horizontal ausgerichtete Kubenkompositionen in
weißem und schwarzem Hochglanzlack dominieren. So auch bei Poliform, MDF Italia
und Porro. Nach der Teakflut im letzten Jahr ist es ruhig um Holzoberflächen im
Möbeldesign geworden. Auch die schokofarbene Eiche wird kaum noch ausgestellt.
Vereinzelt tauchen Edelhölzer auf. Ebenso sind die Farbreihen des Retrodesigns
gelb, orange, rot, violett und creme rückläufig. In den Polsterkollektionen
finden sich nach wie vor grafische und florale Ornamentik, jedoch sparsamer
präsentiert.



Cappellini hat an Kraft und Profil verloren, wie insgesamt der
Auftritt der Poltrona - Frau Gruppe nicht faszinierte. Ein neobarocker Tisch
'New Antiques' von Marcel Wanders, daneben ein schlichter Bürostuhl 'Lotus' von
Jasper Morrison, einem der wenigen, soliden Handwerker der guten Form, sind
Neuheiten aus der Cappellini Collection. Auch Gufram, ein Kind der 68er
Generation, scheint wie eingeschlafen.



Die Rebellen von damals sind müde geworden, außer Gaetano Pesce,
mit z.B. neuen Projekten für Meritalia. Lignet Roset stellte ein formal
reduziertes Sitz-Liegemöbel mit Kupfer glänzendem Textilbezug von Pascal Morgue
aus.



Ron Arad entwickelt für Driade einen spiralförmigen Stahlhocker.
Die Vertreter der Moderne scheinen auf der Stelle zu treten. Gewiss entsteht
hier nach wie vor gutes Design, doch die Profile werden unschärfer. Das Konzept
zu vieler besteht darin die Einzelentwürfe der sich hin- und her reichenden
Designprominenz jährlich aneinanderzureihen. Aber wo sind die Zukunftskonzepte
und Visionen - fragt Udo Tünte, Leiter Entwicklung & Innovation bei Parador.



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Die visionärste Idee war für ihn Z.Island, eine
zukunftsweisendes Küchenkonzept von Zaha Hadid für Dupont, gebaut aus dem
Werkstoff Corian. Der Entwurf soll zukünftig von Ernestomoda hergestellt werden.
Zaha Hadid hat kräftig aufgeräumt mit dem Klischee der Einbauküche. Zwei
organische Skulpturen, die frei im Raum stehen, beinhalten die Funktionen
"Feuer" und "Wasser". Das Ganze kombiniert mit zukunftsweisender
Technologieausstattung: digitale <nobr>Informations-,</nobr> <nobr>Licht-,</nobr> Sound- und Aroma-Technik. Plastisch geformte Wandreliefs beherbergen die notwendigen Stauräume.
Das ganze ist eine Symbiose aus Hightech uns Kunst.



Wo geht die Reise hin ?



Emotionale Extreme sind gefragt. Stilmix total. Alles ist
erlaubt 
Wir spielen barockes Theater. Den Design-Blick in die Vergangenheit gerichtet
produzieren wir Sinnesfreuden. Die Wiese der Moderne scheint abgegrast zu sein
und schafft es nicht sich selbst zu erneuern. Das Nützliche hat sie schon zu
genüge erfunden. Kunst, Experiment und Mode halten geballt, wie selten zu vor,
Einzug ins Möbeldesign und versetzen uns in Erstaunen. Obwohl uns die
gegenwärtige Technik die perfekten Werkzeuge dazu bietet, fehlen die
Zukunfts-Konzepte und Visionen:
Computergestütztes Design und Fertigung, eine Vielzahl innovativer Materialien
und Verfahren und bahnbrechende Zukunfts-Technologien. Mit anderen Worten, sie
gibt uns die Möglichkeit kühne Gedanken zu realisieren. Was allein fehlt ist der
kühne Gedanke und seine Vernetzung mit den technischen Möglichkeiten.
An Kreativität und Mut zum Experiment mangelt es nicht. Das hat die Zona Tortona


eindrucksvoll bewiesen. Daher
Udo Tüntes Vorschlag für das Motto des nächsten Jahres:
Living in the Future!



<div align='right'>Siehe auch: ausgewählte weitere Meldung:
 
Thema: Barockes Theater - Trendeindrücke zur Mailänder Möbelmesse 2006

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